Der Goldpokal 2016 beim Helsinki Segelklubb
Helsinki Airport an einem Juliabend, es ist kühl und regnet leicht, Elly und ich sind gerade gelandet. Vor uns liegt eine Woche Städteurlaub und daran anschließend der eigentliche Grund für unsere Reise: der Goldpokal der Nordischen Folkeboote, zum ersten Mal in seiner über 50jährigen Geschichte in Helsinki ausgetragen. Doch zuerst müssen wir es mal bis zu unserem Appartment schaffen: während wir im Bus sitzen, der uns in die Stadt bringen soll, zählen wir akribisch die Haltestellen mit, bis wir aussteigen müssen, denn die Wörter auf den Schildern sind für uns unaussprechlicher Nonsense. Dann schleppen wir unser Gepäck um ein paar Ecken – und treffen auf einen Schwarm nackter Männer, die in der Dämmerung sitzen, nur mit einem Handtuch um die Hüften, und sich unterhalten als wären sie in einem Straßencafé. Lachend laufen wir weiter – die Sauna lebt und alle Klischees diesbezüglich sind gar keine!
In unserer Unterkunft begegnen wir erstmals dem, was uns in den nächsten Wochen in unterschiedlicher Weise von allen Seiten ständig entgegen schlagen wird: finnische Gastfreundschaft – und Design. Unsere Vermieterin hat im Flur handbedruckte Tapeten an den Wänden, den Schrank voller Marimekko, ihr Sofa ist aus alten Holzpaletten zusammengeschraubt und diverse andere Accessoires sind per upcycling ausgedienter Fahrzeugteile entstanden. Und eine Sauna. Klar. Ein paar Spaghetti in den Topf, ein bisschen schmökern im Reiseführer, ein bisschen planen für morgen – und wir fallen platt in unser Bett, dessen Kopfende eine interessante Kombination aus altem Matratzensprungfederkern und Ikea-Leuchtballons ist. Obacht, wer lange Haare hat…
Ein Lichtwecker auf dem Nachttisch erinnert uns daran, dass es in Finnland sehr dunkle Jahreszeiten gibt. Doch jetzt ist es um elf noch so, dass man gar kein Licht bräuchte.
Und Elly stellt während der nächsten Stunden gleich mal fest: wenn man schlafen will, sollte man tunlich vor Mitternacht einschlafen und dann bis morgens nicht mehr aufwachen. Denn wenn man mal um halb drei wach ist, dann ist es schon wieder hell und der mitteleuropäische Biorhythmus meldet: es ist halb neun, aufstehen!
Die nächsten Tage erkunden wir die Stadt. Wir lernen auf die harte Tour, heranpirschende Möwen frühzeitig zu entdecken und zu verscheuchen, während wir ein Sandwich in der Hand haben, probieren auf dem Stadthafen-Markt Rentiergeschnetzeltes, Elchwurst und Lachsburger, staunen über die Preise für wilde Blaubeeren in Literbechern (günstig!), sammeln im Stadtwald selber welche und machen Cafés ausfindig, in denen ein Espresso unter 3 Euro kostet. Wir erkunden den historischen Ursprung von Helsinki: die Insel Suomenlinna im Helsinki-Schärenarchipel, eine beeindruckende Festungsanlage aus dem 18. Jahrhundert, deren mit Erde aufgeschüttete Sprengstoffdepots gewisse Ähnlichkeiten mit den Hobbit-Behausungen im Auenland haben. Schwer beeindruckt uns auch das Trockendock, das älteste in der Welt, das heute noch benutzt wird. Wir wandern an den Buchten vorbei, die die ganze Stadt durchziehen, und der Reiseführer erklärt uns hinter jeder Ecke eine neue interessante Architektur: sei es die Finlandia-Halle, die zur Zeit ihres Baus architektonische Avantgarde war und auch heute noch gut dasteht, sei es ein ganzes Viertel von Jugendstilvillen, in denen sich wohl unterschiedliche Architekten gegenseitig zu übertrumpfen versucht haben, seien es moderne Bauten aus Holz und Stein – ein Hafenpavillon, eine in den Fels gesprengte Kirche, eine scheinbar in der Luft schwebende Fußgängerbrücke. In Helsinki hat es niemals einfach nur Funktion, es hat immer auch Stil.
Einen Vormittag verbringen wir im Design-Museum und nehmen überrascht zur Kenntnis, wie viele Gegenstände, die wir in den sechzigern verortet hätten („Sowas stand bei meiner Oma im Schrank“) in Wirklichkeit aus den vierzigern, dreißigern oder gar zwanzigern stammt – und damals seiner Zeit weit voraus war.
Von nun an ist unser Auge geschärft für die vielen kleinen Läden, in denen sich die ganze Bandbreite an Erfindungsgabe der jüngsten Generation finnischer Designer entfaltet. Es gibt unglaublich pfiffige Ideen. Aus Lederpatches zusammengenähte Stofftiere, die nicht nur für Kinder als Hocker zu nutzen sind (um die Schildkröte schleiche ich eine ganze Weile herum), aus Wellpappe zusammengesteckte Lampen, die in angeschaltetem Zustand den ganzen Charme des Zusammenspiels aus Material und Zweck entfalten – wer in Helsinki eine originelle Idee hat, kann damit in Serie gehen und ein Geschäft aufmachen.
Dann ist es Zeit, unsere Sachen zu packen und noch einmal umzuziehen (dieses Mal bei strahlendem Sonnenschein und sommerlichen Temperaturen): die Regatta wird auf der etwas vorgelagerten Insel Lauttasaari stattfinden. Wir kommen am Hafen an und finden schon einige Bekannte in der Schlange am Kran stehen, aus Berlin, Hamburg, Kiel und Flensburg. Einer, der schon am Liegeplatz festgemacht hat, fällt dadurch auf, dass er erstaunliche Mengen an Gepäck und Proviant auslädt. Augenzwinkernd darauf hingewiesen, dass man sich hier nicht komplett selbst verpflegen muss, sondern damit zu rechnen ist, dass es an Land zu essen geben wird, erzählt er, dass er aus Hamburg auf eigenem Kiel her gesegelt ist – die besten sechs Wochen seines Lebens. Allein die Überfahrt von Gotland nach Sareema, nachts bei ein bis zwei Metern Welle… Aber was man für die Zeit an Bord so braucht, das hat er völlig überschätzt. Nun muss er das ganze überflüssige Zeug irgendwo unterbringen, denn auf dem Schiff kann es ja nicht bleiben während der Regatta.
65 Boote haben gemeldet – so viele wie seit Jahren nicht mehr. Vor allem viele junge Teams aus Finnland und Estland mischen die Szene auf; sechs Nationenflaggen werden bei der Eröffnungsveranstaltung gehisst – für die siebte, die finnische, war kein Fahnenmast mehr übrig. Der weitere Verlauf des Abends lässt erahnen, wie die nächsten Tage landseits vergehen werden: mit finnischem Bier und eigenartigen Longdrings in Dosen (Sponsoring, die Finnen empfehlen lieber das Bier), üppiger Verpflegung nach dem Einlaufen, Sauna und langen Abenden bei schönem Licht, Musik und nie ermüdender Feierlaune. Ein junger Finne erzählt mir, dass der Sommer in Finnland nach Kräften ausgekostet werden muss, das Licht, die Wärme, draußen leben und feiern – denn der Winter wird wieder kommen, und er wird wieder lang und trist.
Die Wettfahrten beginnen für uns ein wenig frustrierend: mit einem BFD. Außer dass es nach dem mißglückten Start fast zwei Stunden dauert, bis wir wieder am Liegeplatz sind, kann ich deshalb zu den Bedingungen nicht mehr viel sagen. Immerhin haben wir so genug Zeit, den Frust ein bisschen zu verarbeiten. Und wir ahnen, dass wir bei einem morgen für elf Uhr angekündigten Start gegen halb neun auslaufen werden müssen.
In dem Wissen, dass wir unseren Streicher schon haben und dass es einen ganz vorne an der Linie auch eiskalt erwischen kann, gehen wir den Start am nächsten Tag wesentlich defensiver an. Wir konzentrieren uns darauf, halbwegs pünktlich weg und frei rauszukommen (bei 65 Schiffen im Feld gar nicht so einfach) und dann kommt es darauf an, die richtigen Schläge zu fahren. Fünf Grad machen über eine Distanz von zwei Seemeilen Luftlinie zwischen Luv- und Leebahnmarken nämlich wirklich etwas aus, vom Leegate aus sind die Luvtonnen nicht zu sehen. Unsere „Grundlagenarbeit“ zahlt sich aus, Johannes steuert konzentriert und ruhig, Elly und ich machen auf der Kante ausdauernd die Robbe – wir werden 23. Für uns ein prima Ergebnis. Noch ein Start, wieder eher defensiv, aber pünktlich und einigermaßen frei, dann konzentriert mit Trimm und Kompass arbeiten, den freien Wind und die weniger umkämpfte Tonne an den Leegates suchen, nicht nachlassen – und wir werden, unglaublich, neunte. Neunte von Fünfundsechzig! Die Heimfahrt dauert länger als gestern, denn wir kommen schon etwas in die Abendflaute – aber das macht nichts, denn die Stimmung ist heute prima.
Früh auslaufen, nicht zu offensiv starten und dann so wenig wie möglich Fehler machen: so nehmen wir es uns für den nächsten Tag wieder vor.
Um halb neun ist dann noch so wenig Wind, dass wir nicht hoffen können, um elf da zu sein, wenn der Start wie angekündigt laufen würde. Aus dem Archipel aufs freie Wasser rauskreuzen ist zwar jedes Mal ein Erlebnis, kostet aber auch einfach Zeit, und wenn es dann noch so wenig Wind hat… Elly bemerkt erstmals, dass es eigentlich ein Organisationsdefizit ist, dass die Wettfahrtleitung an allen vorbei fährt, die sich mit hängenden Segeln vorankämpfen und es keinen Schlepp gibt. Draußen jedoch ist auch zuerst mal Warten angesagt, denn die vier Knoten, die es braucht, stehen noch längst nicht stabil übers ganze Feld. Je höher die Sonne über glattem Wasser steigt, desto mehr Crews legen sich ins Päckchen miteinander und fangen an, Bier zu trinken… Johannes, Elly und ich formulieren den Standpunkt, dass das finnische Bier nicht gut genug ist, dass man dafür den Wettfahrterfolg aufs Spiel setzen würde. Und dann irgendwann fängt das Wasser an, sich zu kräuseln. Wir beobachten genau, wo die Wolken herkommen, wie sich der Wind aufbaut und als dann der Startschuss kommt, gelingt es uns wieder, frei raus zu kommen. Die Winde sind leicht, unser Trimm optimal und wir erwischen die richtigen Schläge…. an der ersten Tonne kommen wir in der Spitzengruppe an. Gedämpfte Euphorie, jetzt bloß keine groben Fehler, bitte! Auf dem Downwind-Kurs können wir sogar noch ein paar Boote holen, ein flüssiges Leetonnen-Manöver und dann eine kluge Taktik für die nächste Kreuz – an der Tonne wieder unter den ersten zehn. Johannes‘ Augen leuchten schon ein bisschen. Die „Waupee“ läuft wirklich ziemlich gut, wenn man sie nur lässt: wieder holen wir noch ein paar Boote nach Lee, erwischen die bessere Tonne frei, starten gut weg auf die richtige Seite und nun gilt es, keine Fehler mehr zu machen. Zum Glück gibt es noch ein paar vor uns, die wir beobachten können. Und vorne zu segeln hat den Vorteil, dass man sich relativ frei aussuchen kann, wo man hinfahren will. Dass man dabei von einer Abluft in die nächste gerät, ist so gut wie ausgeschlossen. Wir erwischen es noch ein bisschen besser als zwei Konkurrenten – und kommen als sechste ins Ziel. Neununfünfzig Boote hinter uns, fast das ganze Feld. Keiner von uns war jemals in einem solchen Feld so weit vorne. Auf dem Heimweg dreht das Wetter vollends, wir können gerade noch im Trockenen anlegen und die Persenning draufwerfen. Als neben uns der Stegnachbar ankommt, bemerke ich „We were lucky…“ – weil das Wetter noch die ganze Wettfahrt über gehalten hat, will ich sagen, doch die Jungs unterbrechen mich: „No, you were clever! And fast!“ Das von einem der Champions der letzten Jahre – heute abend treffen uns auf dem Steg ganz viele anerkennende Blicke.
Doch der Charme einer Regatta mit fünf Wettfahrttagen liegt ja darin, dass meistens jeder mal die Bedingungen bekommt, die er am besten kann. Unsere waren gestern. Das merken wir am Tag drauf recht schnell. Es ist mehr Wind, eigentlich dennoch gar nicht so viel – aber die Welle. Und nun zeigt sich, dass man es in einem Feld von 65 Booten im Prinzip vergeigt hat, wenn man nicht die erste Tonne so erreicht, dass man anschließend nicht völlig im Pulk verschwindet. Wir brauchen zwei Kreuzschenkel, bis der Trimm wieder einigermaßen stimmt. Und das ist definitv zu lange – denn nun ist es fast egal, wohin wir wenden: irgendjemand schiebt uns immer seine „Schütte“ zu. Dazu kommt, dass auf den „billigen Plätzen“ auch die Regelkunde ein wenig leidet. Mehrmals fährt uns an den Leetonnen jemand völlig unmöglich rein, so dass wir, um krachende Kollisionen zu vermeiden entweder gleich an der Tonne schon wieder mit Abwinden losfahren oder völlig überstürzt eine Notwende machen müssen. Als an einer anderen Leetonne jemand per Patenthalse seinen Vorschoter über Bord wirft und anstatt sich um dessen Bergung zu kümmern, einfach weiterfährt, staunen wir aber doch. Und als uns, mit Backbordschlag ein paar Meter vor der Ziellinie, zwei andere einfach quer vor den Bug fahren und uns damit schon wieder zu einer Notwende zwingen, weil sie offenbar keine Lust haben, sich freizuhalten, staunen wir nochmal. Diese Wettfahrt hätten wir gern gestrichen: Wir werden fünfzigste.
Bei der nächsten gleich im Anschluss geht schon mal der Start ein wenig schief. Der Trimm ist besser, aber dennoch…. Wir kämpfen wacker, versuchen alles – aber mehr als 10 Punkte Verbesserung ist nicht mehr drin. Und als wir auf dem Heimweg in die Schärenlandschaft hineinfahren, flaut der Wind auch noch recht schnell ab, es ist schon spät – und wir fragen uns, ob wir es aus eigener Kraft bis zum Abendessen in den Hafen schaffen. Unter dem Eindruck der leicht frustrierend gelaufenen Wettfahrten kommt es uns umso unfreundlicher vor, dass die Wettfahrtleitung mit fünf Booten am Feld vorbei fährt, ohne auch nur ein einziges in den Schlepp zu nehmen.
Auf der vorläufigen Ergebnisliste ist der Streicher seit heute schon drin – wenn wir nicht nach diesem unrühmlichen BFD einen fünfzigsten und einen vierzigsten heute gehabt hätten… Aber es macht keinen Sinn, zu hadern. Lieber mal in die Sauna und anschließend sich von der guten Laune anderer anstecken lassen, die heute das tolle Ergebnis gefahren sind, das wir gestern hatten.
Am letzten Wettfahrttag gibt es einen, der gleich morgens mit dem Schiff an den Kran geht: Per Joergensen vom Kolding Sejlclub (DK) hat ausgerechnet, dass ihm den Sieg niemand mehr nehmen wird und fährt deshalb mit seiner Crew in die Stadt, sightseeing machen und Champagner kaufen, damit hinterher genügend da ist, dass jeder der vergangenen Sieger aus dem Pokal trinken kann – und die, die ihn noch nicht gewonnen haben, aus profanen Plastikbechern.
Für uns läuft es heute so, wie wir uns ungefähr eingeschätzt hätten, bevor es losging mit den Wettfahrten: dreißigste. Erste Hälfte. Platzierungen von fünfzig und vierzig sind schon ein bisschen „unter Wert“ für uns, aber zwei Platzierungen unter den ersten zehn – dass wir das schaffen würden, hätten wir nicht erwartet. Insofern lief es für uns insgesamt eigentlich ganz gut.
Bevor die Siegerehrung steigt, kommt ein wenig Wehmut auf. Es waren so wunderbare Tage… Irgendwoher kommt die Information, dass hier im Hafen des Helsinki Segelklubb zwei Wochen später noch die finnische Meisterschaft stattfinden wird – und sofort spielen einige mit dem Gedanken, ihr Boot hier zu lassen, in zwei Wochen zurückzukommen und auch mitzusegeln, so schön war es hier. Wenn die Überführung mit der Fähre nur nicht so teuer wäre oder zumindest eine gebuchte Fahrt umbuchbar…
Die Siegerehrung zieht sich dann etwas, denn der Helsinki Segelklubb hat sich wirklich einiges einfallen lassen und großartige Preise „eingetrieben“. Es gibt etwas für den jüngsten Teilnehmer, für den ältesten Teilnehmer, das älteste Boot, das schnellste Holzboot…. – und dann gibt es den Pokal, der an den Club geht, für den der Sieger gestartet ist: ein Kilogramm massives Gold, mit einer Pergamentrolle im Fuß, auf der jeder Sieger eingetragen wird. Nach der Übergabe wird er traditionell mit Champagner gefüllt und jeder, der ihn schon einmal gewonnen hat, darf daraus trinken. Und das sind überwiegend Dänen… aber auch immerhin zwei deutsche Crews (von denen einer den Preis für das schnellste Holzboot bekommen hat).
Bevor sich alle ans Buffet stürzen, wird noch die Einladung für nächstes Jahr bekannt gegeben: Kommt alle nach Kerteminde auf Fünen (DK) zur großen Geburtstagsparty, das Folkeboot wird nächstes Jahr 75 Jahre alt! Und dann gibt es Essen: Fischsuppe, Elchgeschnetzeltes, Salat und zum Nachtisch rote Grütze mit Sahne in Mengen. Alle sind glücklich und zufrieden – wenn auch nicht durchweg mit ihren Erfolgen in der Regatta, so doch zumindest mit der Entscheidung, sich auf die lange Reise gemacht zu haben. Wir sitzen noch im Garten, als es schon dunkel wird – und das will was heißen, in Helsinki im Sommer!
Erika Beyerle